Transgenerationale Traumata-Vererbung
Wie Traumata vererbt werden
In systemischen Familienaufstellungen wird regelmäßig deutlich, wie sehr Traumata und schwere Schicksale einzelner Familienmitglieder ein Familiensystem über mehrere Generationen hinweg belasten können. Ob Traumata transgenerational weitergegeben werden und in welchem Ausmaß, ist dabei individuell unterschiedlich. Ein größeres Risiko der Weitergabe scheint zu bestehen, wenn die traumatisierte Person das Erlebte nicht verarbeiten konnte. Insbesondere, wenn auch in der Familie darüber geschwiegen wird, scheint sich die toxische Wirkung auch in nachfolgenden Generation zu entfalten. Das Thema bleibt offensichtlich so lange im Familiensystem bestehen, bis es gesehen und bearbeitet worden ist. Diese sogenannte transgenerationale Traumata-Vererbung ist in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beschrieben worden und gilt inzwischen als anerkannter, klinischer Befund.
„Wo die Aufarbeitung nicht oder nur unvollständig gelingt, wird die Gefühlserbschaft zur Last auch noch für die Enkel/innen und Urenkel/innen“
Dr. Angela Moré, Apl. Professorin für Sozialpsychologie, Universität Hannover
Wie zeigen sich transgenerationale Traumata?
Transgenerationale Traumata können sich auf verschieden Weise bemerkbar machen. In manchen Familiensystemen treten bestimmte Themen, Schicksalsschläge und Krankheiten über Generationen hinweg immer wieder auf. In anderen Fällen zeigen Nachkommen Symptome einer Traumatisierung, die sie selbst gar nicht erlebt haben und daher schwer einzuordnen sind.
Mögliche Anzeichen:
- Unerklärliche, unverhältnismäßige Ängste
- Unerklärliche Gefühle wie Schuld oder Scham
- Ständige Angst vor Fehlern und Entscheidungen
- Extremes Sicherheitsbedürfnis und Angst vor Veränderung
- Belastende Träume, Gedanken oder Bilder ohne aktuellen Bezug
- Zwangshandlungen
- Gefühl sich selbst fremd zu sein, Unsicherheit in der eigenen Identität
- Unerklärliche Existenzängste ohne objektive Grundlage
- Übergroße Angst aufzufallen
- Angst, die Kontrolle zu verlieren
- Frühe Erfahrung von Mobbing und Ausgrenzung
- Das Gefühl, nirgendwo hinzugehören
- Episoden von depressiver Verstimmung ohne Auslöser
- Ständige Unruhe, Gehetztsein oder Gereiztheit
- Andauerndes Gefühl von Überforderung oder Bedrohung
- Bindungsschwierigkeiten
- Unkontrollierbare Emotionen oder Emotionslosigkeit
- Gehäuftes Auftreten von Krankheiten in der Familie
Psychosoziale Traumata-Vererbung
Traumata können auf verschiedenen Wegen weitergegeben werden. Zum einen werden durch Prägungen, über Glaubenssätze, elterlichen Warnungen und Einstellungen zum Beispiel die Ängste der traumatisierten Eltern direkt an die eigenen Kinder weitergegeben. Diese geben wiederum ihr verinnerlichtes Glaubenssystem später an die nächste Generation weiter. Dazu können beispielsweise starke Existenzängste und ein extremes Sicherheitsbedürfnis gehören.
Traumata können aber auch indirekt, durch dysfunktionale Interaktion zwischen Eltern und Kindern, weitergegeben werden. Dies gilt beispielsweise, wenn Eltern in Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung so sehr von den eigenen Gefühlen abgeschnitten (dissoziiert) sind, dass sie auch für ihre Kinder nur wenig emotionale Wärme aufbringen können. Dieser Mangel an Liebe und Geborgenheit kann beim Kind zu einer Störung der Bindungsfähigkeit, Depressionen, Sucht usw. führen. In der Folge sind diese Nachkommen später als Eltern selbst ebenso für ihre Kinder emotional nicht verfügbar.
Epigenetische Traumata-Vererbung
Die Schweizer Forscherin und Professorin für Neuroepigenetik der Universität Zürich, Isabelle M. Mansuy, konnte anhand von Versuchen mit Mäusen zeigen, dass Traumata vererbt werden. Nachfahren traumatisierter Mäuse wiesen auch nach mehreren Generationen Verhaltensänderungen auf. Die Verhaltensänderungen der Mäuse traten sogar dann auf, wenn die Nachkommen der traumatisierten, männlichen Mäuse von unbelasteten Müttern aufgezogen wurden. Dabei wird allerdings nicht die DNA (der genetische Code) selbst verändert, sondern andere, temporär das Erbgut regulierende Faktoren. Diese sogenannten epigenetischen (altgriechisch „epi“ = dazu, zusätzlich -genetisch) Faktoren können steuern, ob und wann bestimmte Teile der DNA abgelesen werden. So können z.B. Hormone in Abhängigkeit von Umweltfaktoren hergestellt werden oder eben nicht. Da Hormone unsere Emotionen und damit unser Verhalten steuern können, hat das Epigenom also auch Einfluss auf unser Verhalten. Auch Untersuchungen bei Menschen zeigten überdurchschnittlich häufig ein verändertes Epigenom bei Nachkommen traumatisierter Mütter.
Warum Traumata oft unerkannt bleiben
Die Schwierigkeit beim Umgang mit Traumata ist, dass Betroffene oft gar nicht wissen, dass es eine Ursache für ihre Probleme gibt. Entweder weil sie noch zu klein waren oder weil es eine ganze Generation betroffen hat und damit eine Art Normalzustand darstellt. Das gilt z.B. in der Generation der Kriegskinder. Sehr schwierig wird es, wenn es sich um ein Trauma handelt, dass man selbst gar nicht erlebt hat und vielleicht sogar eine Generation übersprungen wurde. In der Generation der Kriegsenkel ist das beispielsweise häufig der Fall. Betroffene empfinden dann unter Umständen ihre Schwierigkeiten als persönliche Unzulänglichkeiten. Sie versuchen dann eher, die Schwierigkeiten zu verstecken oder zu verdrängen. Aber auch wenn Betroffene die Probleme mit Therapie und Coaching angehen, bleiben die Anstrengungen oft erfolglos. Einfach deswegen, weil sie an der falschen Stelle nach der Lösung suchen. Ein Teufelskreislauf, unter dem das Selbstwertgefühl und das Gefühl, am eigenen Schicksal etwas ändern zu können, weiter leidet.
Transgenerationaler Traumata sind reversibel
Auf Ebene der Epigenetik können Schäden offenbar repariert werden. Mansuy wies nach, dass in einer besonders stressfreien, positiven Umgebung die epigenetischen Veränderungen bei den traumatisierten Mäusen rückgängig gemacht werden können und auch nicht mehr vererbt werden. In der Traumatherapie geschieht im Prinzip etwas Ähnliches. Der mit dem Trauma verbundene Stress wird bearbeitet und nach Möglichkeit mit einer neuen positiven Erfahrung „überschrieben“.
Wie können transgenerationale Traumata geheilt werden?
Familienaufstellungen und systemische Traumatherapie/EMDR können helfen, ererbte Traumata zu lösen. Das geschieht im Wesentlichen, indem solche schicksalhaften Verbindungen zwischen Familienmitgliedern aufgedeckt werden. Das Sichtbarmachen und Anerkennen des belastenden Themas, ist der größte Heilungsimpuls für das System. Für den Klienten selbst bringt das bewusste Erkennen „Das Thema gehört nicht zu mir“, „dieser Glaubenssatz ist nicht meiner“, meist unmittelbar eine große Klarheit und Erleichterung. Anschließend gilt es neue, positive Glaubensätze und Verhaltensweisen zu etablieren.
Hast du ein Trauma geerbt?
Immer wenn in der eigenen Biografie keine Erklärung für belastende Emotionen gefunden werden kann, lohnt sich ein Blick in das eigene Familiensystem. Insbesondere, wenn du schon erfolglos versucht hast, das Problem in den Griff zu bekommen.
Diese Fragen können dir helfen, Verbindungen im System aufzudecken:
- Wer hatte vor dir ähnliche Themen?
- Wer war in einer ähnlichen Situation/Konstellation?
- Wer hätte sich so verhalten /fühlen sollen, ohne es zu tun?
- Wem fühlst du dich verbunden?
- Wem bist du (angeblich) ähnlich?
Buchtipp
Sind du, deine Eltern oder Großeltern Kriegskinder oder Kriegssenkel? Dann sind die Bücher von Sabine Bode „Die vergessene Generation“ und „Kriegsenkel“ möglicherweise etwas für dich und deine Familie. Die Schilderungen von Betroffenen dokumentieren sehr eindrücklich, wie traumatische Kriegserlebnisse auch noch nach Jahrzehnten und über Generationen hinweg die Schicksale der Menschen beeinflussen. Eine große Hilfe, um sowohl das eigene Erleben und Verhalten sowie das der Eltern und Großeltern, besser zu verstehen und einordnen zu können.
Sabine Bode: Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Klett-Cotta, Stuttgart 2004, ISBN 3-608-94800-7
Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-608-94550-8.
Interview C. Battaglia mit Prof. I. Mansuy: Verwandt: Genforscherin Isabelle Mansuy: „Verhalten wird nicht nur durch soziale Interaktion vererbt“, erschienen 2016 auf Tagblatt.ch
Angela Moré: Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen. In: Journal für Psychologie. Band 21, Nr. 2, 2013, ISSN 2198-6959 (journal-fuer-psychologie.de
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