Warum wir nicht „loslassen“ können

Warum ist „loslassen“ oft so schwierig? Warum können uns Emotionen auch Jahre nach einem Erlebnis noch einholen? Vermutlich alle Menschen haben in ihrem Leben irgendwann eine seelische Verletzung erlitten. Nicht nur Traumata wie Gewalt, Verlust, Unfall oder eine schwere Krankheit können schwer zu bewältigen sein. Auch Erlebnisse wie eine Trennung, ein Misserfolg oder Kritik können […]

Warum wir nicht „loslassen“ können

Blockaden im Gehirn

Warum ist „loslassen“ oft so schwierig? Warum können uns Emotionen auch Jahre nach einem Erlebnis noch einholen?

Vermutlich alle Menschen haben in ihrem Leben irgendwann eine seelische Verletzung erlitten. Nicht nur Traumata wie Gewalt, Verlust, Unfall oder eine schwere Krankheit können schwer zu bewältigen sein. Auch Erlebnisse wie eine Trennung, ein Misserfolg oder Kritik können in eine Lebenskrise führen. Warum „einfach loslassen“ dann oft nicht möglich ist und was das mit der Arbeitsweise unseres Gehirns zu tun hat, darüber geht es in diesem Beitrag.

„Die Zeit heilt alle Wunden“!?

Normalerweise können wir negative Erlebnisse nach einigen Stunden oder Tagen integrieren und fühlen uns wieder stabil. Ein Erlebnis hat uns für kurze Zeit aus der Bahn geworfen und wir brauchen ein wenig Zeit, um uns zu sortieren und wieder in die Spur zu finden. Manchmal ist es aber anders. Die belastenden Emotionen kommen immer wieder zu Tage, begleiten über Monate, Jahre oder gar ein ganzes Leben lang. Das gilt insbesondere dann, wenn frühere Erfahrungen reaktiviert werden. Wie sehr und wie lange uns eine Erinnerung belastet und wir sie nicht loslassen können, hängt vor allem davon ab, ob unser Gehirn in der Lage ist, eine Erfahrung einzuordnen und auf neuronaler Ebene zu verarbeiten.

Wie das Gehirn normalerweise arbeitet

Läuft bei der Verarbeitung und Speicherung eines Erlebnisses im Gehirn alles wie geplant, können wir uns in Zukunft an das Erlebnis erinnern. In ähnlichen Situationen können wir auf diese Erinnerung zurückgreifen und entsprechend reagieren. Streift beispielsweise eine Brennnessel das Bein, wissen wir in Zukunft wie die Pflanze aussieht, wie sich der Kontakt anfühlt und reagieren folgerichtig, indem wir Abstand halten. Wir haben daraus gelernt.

Rechte und linke Gehirnhälfte

Wenn wir etwas erleben, werden alle Sinnes- und Körperwahrnehmungen dem Gehirn gemeldet. Dort werden die Wahrnehmungen logisch eingeordnet, bewertet, mit den entsprechenden Gedanken und Emotionen verknüpft und evtl. eine passende Reaktion wie z.B. Flucht oder Vermeidung ausgelöst. Über das so geknüpfte neuronale Netz ist die Erfahrung abgespeichert und später wieder abrufbar.

In der rechten Gehirnhälfte werden dabei die Sinneswahrnehmungen – Geruch, Geschmack, Geräusche, Körperempfindung sowie die inneren Bilder und Szenen – aber auch die damit verbundenen Emotionen wie Angst oder Freude abgespeichert.

In der linken Gehirnhälfte erfolgt die zeitliche (wann), räumliche (wo) und logische Einordung (warum), der in der rechten Gehirnhälfte abgespeicherten Information. Dort erfolgt auch die Bewertung (positiv/negativ) des Geschehens und die sprachliche Umsetzung.

Für eine „zusammenhängende“ Erinnerung werden beide Gehirnhälften miteinander verknüpft. Das heißt, wir können alle wichtigen Eindrücke und Ereignisse in einer logischen Abfolge erzählen und auch bewusst Auskunft darüber geben, wie und warum wir in dieser Situation so empfunden haben.

Wir könnten also beispielsweise erzählen, dass wir uns ärgern, weil wir gestern im Wald aus Unachtsamkeit in die Brennnesseln geraten sind und man heute immer noch die Rötung sieht.

Das Gehirn im Stressmodus

In einer Gefahrensituation reagiert der Organismus in der Regel automatisiert mit Flucht oder Angriff. Dabei wird das logische Denken zu Gunsten einer kurzen Reaktionszeit und einem einsatzbereiten Körper ausgeschaltet. Im Augenblick der Gefahr ist es tatsächlich völlig unwichtig, eine logische Begründung für die Situation zu finden oder sie sprachlich zu beschreiben. Erst wenn die Gefahr für den Körper gebannt ist, wird die Erinnerung im Gehirn vernetzt und abgespeichert. Dadurch können wir sie erinnern, örtlich und zeitlich einordnen, logisch begründen und in Worte fassen.

Einschneidende Erlebnisse

Bei einschneidenden Erlebnissen bzw. Traumata ist die Informationsfülle so überwältigend und die emotionale Erregung so stark, dass diese spätere Verknüpfung mit den Zentren für Sprache und logischem Verstehen häufig nicht oder nur fragmentarisch zustande kommt. Die Erinnerung bleibt dann isoliert in sogenannten Clustern, kleinen neuralen Netzen, vorwiegend in der rechten Gehirnhälfte abgespeichert. Diese Cluster sind von der linken Gehirnhälfte abgeschnitten und ein logisches Verständnis des Erlebten ist dadurch nicht möglich. Die Verarbeitung der Erfahrung im Gehirn ist blockiert, wir können sie weder abschließen, noch loslassen.

Reaktivierung früher Erlebnisse

Kleine Auslöser im Außen, zum Beispiel Bilder, Geräusche, Gerüche etc. können eine bisher nicht verarbeitete Erfahrung reaktivieren. Das bedeutet, die ursprünglich beteiligten Emotionen und Körpergefühle wie zum Beispiel Angst, Wut, körperliche Symptome und Schmerzen können auch ohne das Vorhandensein einer vergleichbar einschneidenden Situation reaktiviert werden. Die Auslöser und Zusammenhänge sind dabei den Betroffenen meist nicht bewusst.

Das ist nach einem Trauma im Erwachsenenalter so, gilt aber auch für Erlebnisse aus der Kindheit. Situationen, die aus Sicht eines Erwachsenen verständlich sind (z.B. Abwesenheit der Eltern) können für ein Kind eine traumatische Erfahrung gewesen sein. Zudem sind vor dem vierten Lebensjahr die beiden Gehirnhälften noch nicht voll verbunden. Erlebnisse aus dieser Zeit sind zwar gespeichert, können aber nicht bewusst erinnert werden. Das heißt, auch Menschen die nach eigenem Ermessen eine „glückliche Kindheit“ hatten und sich keiner traumatischen Erfahrung bewusst sind, können solche unbewussten Trigger haben…

Blockierte Verarbeitung: Symptome 

„Ich kann nicht aufhören daran zu denken“, „“Ich kann es einfach nicht verstehen“ sind Sätze, die ich häufig in der Praxis höre. Kann eine Erfahrung nicht logisch eingeordnet und bewertet werden, versucht das Gehirn immer wieder, dies nachzuholen und die Abspeicherungen noch erfolgreich zu vernetzen.

Diese wiederholten Versuche können sich z.B. äußern in:

  • „Gedankenkreiseln“, „ständig daran denken müssen“
  • Zwanghaftem Gefühl darüber reden zu müssen
  • Plötzlich auftretenden Emotionen, Panikattacken, Depressionen
  • Aufgewühlte Emotionen bei lang zurückliegenden Erinnerungen
  • Anhaltende Übererregbarkeit, Nervosität, Probleme sich zu entspannen
  • Vermeidung z.B. von Orten oder Menschen, die Erinnerungen triggern könnten
  • Albträumen / schlechtem Schlaf
  • Flashbacks, sich aufdrängenden Szenen, Bildern
  • Emotionslosigkeit, Rückzug

Erfahrungen nachträglich integrieren

Ein Erlebnis, das nicht verarbeitet werden konnte, kann auch nachträglich noch integriert werden. Dazu muss die Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte neu hergestellt werden. Bei EMDR (Eye Movement Desenzitisation and Reprocessing) wird durch wechselseitige Stimuli der beiden Gehirnhälften der Verarbeitungsprozess wieder in Gang gesetzt. Die Erfahrung wird dadurch desensibilisiert und neu verarbeitet. Dadurch wird die Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht aber sie kann abgeschlossen und losgelassen werden.

Mehr zu EMDR findest Du auf meiner Website.

Ich verwende EMDR sowohl im Coaching als auch in der systemischen Traumatherapie zur Verarbeitung belastender Erlebnisse und Überwindung von Blockaden.

Im nächsten Blog gebe ich Tipps, wie man im Alltag schneller wieder in die Balance kommt.

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